Fakten und die amerikanische Debatten-Kultur
In einem Monat wählen die Vereinigten Staaten ihren Präsidenten, den wohl mächtigsten Mann der Welt – aber schon der Wahlkampf macht in anderen Ländern Schlagzeilen.
Vergangene Woche debattierten Barack Obama und Mitt Romney zum ersten Mal, es folgen zwei Debatten am 16. und 22. Oktober sowie eine zwischen den Anwärtern auf das Vizepräsidentenamt am 11. Oktober. Das direkte Aufeinandertreffen der Kontrahenten wirkt dabei große Anziehungskraft aus: 67 Millionen Amerikaner sahen zu. Danach waren sich die Journalisten und Experten einig: Mitt Romney hat gewonnen. Er debattierte eloquent, charmant und aggressiv, während Barack Obama defensiv, fahrig und ausweichend wirkte. Romney habe es geschafft, sich wieder an den amtierenden Präsidenten heranzukämpfen. Allein: Wie viel kann eine TV-Debatte über die politische Eignung eines Kandidaten sagen, und wie sehr können Wähler ihre Entscheidung daran festmachen?
Matt Taibbi vom amerikanischen Rolling Stone Magazine nannte die Debatte den „hochwichtigen Bullshit-Contest„. Bullshit deshalb, weil die Kandidaten sagen können, was sie wollen – und das muss nicht immer die Wahrheit sein. Auf der Website factcheck.org findet sich eine lange Liste von Lügen, Halbwahrheiten und Unklarheiten, die die beiden Politiker in ihrer Debatte von sich gegeben haben. Fact Checking ist im amerikanischen Journalismus auf dem Vormarsch.1
Der Einfluss der Debatten
Wie aber kann ein Kandidat in einer Debatte auf solche Lügen reagieren? Was kann er tun, wenn der Gegner schlichtweg lügt? Obamas Unvermögen, Romney der Lüge oder der Verfälschung zu bezichtigen, ist für viele Kommentatoren der Grund, warum er die Debatte verlieren musste – Al Gores Erklärung, es sei die Höhenluft gewesen, einmal dahingestellt.
Das Problem einer solchen Debatte ist ihre Einschlagskraft. Wenn beinahe ein Viertel der amerikanischen Wähler die Debatte verfolgt, Romney und Obama bei wahrscheinlichen Wählern nur zwei Prozentpunkte auseinanderliegen – was können die vier Prozent der Unentschiedenen dann mit ihrer Stimme bewirken, und wie wichtig sind die Debatten für ihre Stimme?
Die Objektivität des angelsächsischen Journalismus hat eine lange Tradition. „Comment is free, facts are sacred“ – das hatte bisweilen bizarre Konsequenzen, wie etwa die Art, wie der ehemalige US-Senator Joseph McCarthy mit den Nachrichtenagenturen spielte. Er verleumdete seine politischen Gegner, weil er wusste, dass die Nachrichtenagenturen die Anschuldigungen eines Senators weitergeben würden. Dabei kannte er den Zeitdruck der Journalisten; er plante seine Statements so, dass keine Zeit mehr blieb, um seine Behauptungen zu überprüfen. Bis die Erwiderungen folgten, waren seine Aussagen längst im Gedächtnis der Leser.2
Fakten überprüfen – live?
Es gibt zwar aktuell die Bestrebung von Journalisten, Fact Checking auch in die tatsächlich neutralen Berichte einzubinden – das hätte aber keinen Einfluss auf eine präsidentielle Debatte, denn keine Zeitung wird von 67 Millionen Amerikanern gelesen. Welche Möglichkeit gibt es also, Debatten zwischen Politikern auf eine rationale Basis zu stellen? Real-Time Fact Checking klingt allzu verlockend. Die großen Fact-Checking-Portale tun das auf Twitter, aber wiederum ist hier die Reichweite tendenziell gering. Warum also nicht ein Team von Journalisten und Experten während der Debatte die Aussagen der Kandidaten überprüfen lassen und ihre Ergebnisse in Pausen verkünden?
Abgesehen davon, dass die Kandidaten daran wenig Interesse haben werden, würde es auch den aalglatten und hochformalisierten Ablauf der Debatten stören. Die politischen Parteien werden sich darüber hinaus gegenseitig vorwerfen, die Fact Checker seien voreingenommen, ihre Quellen falsch, ihre bloße Anwesenheit ziehe die Glaubwürdigkeit der Kandidaten in den Dreck.
Die Wurzeln der Debatten liegen in den höflichen, formalen und stundenlangen Lincoln-Douglas-Debatten. Fact-Checking gehörte heute wie damals nicht dazu. Aber wer eine entfesseltes Streitgespräch sehen will, bei dem Polemik ganz unverblümt die Grundlage ist, ist beim „Rumble 2012“ zwischen FOX-News-Kommentator Bill O’Reilly und „The Daily Show“-Moderator Jon Stewart richtig.
1 Factcheck.org wird herausgegeben vom Annenberg Public Policy
Center der University of Pennsylvania. Andere wichtige Analysen kommen vom Projekt
„Politifact“ der Tampa Bay Times und „Fact Checker“, einem Blog der Washington Post.
2 Siehe hierzu Roger Streitmatter, „Mightier Than The Sword“