Attentat von Boston: Wettlauf um die Nachricht
Die Polizei hat den zweiten Verdächtigen für die Bombenexplosionen von Boston lebend gefasst, nachdem der erste Verdächtige auf der Flucht gestorben war. Die mutmaßlichen Attentäter hatten massiv auf die Wirkung der Bilder gesetzt: Nirgendwo laufen so viele Videos, machen Zuschauer so viele Bilder wie beim Zieleinlauf eines großen Marathons. Die Täter setzten darauf, dass sich ihr Terror rasant verbreiten würde – über das Internet. Tatsächlich überschwemmten teils drastische Bilder die sozialen Netzwerke und andere Foren.
Aber nicht nur Bilder und Videos kursierten nach dem Anschlag, auch herzzereißende Geschichten und krude Verschwörungstheorien verbreiteten sich rasch. So hieß es etwa, ein junger Mann hätte geplant, seiner Freundin bei ihrem Zieleinlauf einen Heiratseintrag zu machen – die Explosionen hätten sie getötet. Viele Blogs behaupteten, der Anschlag sei eine False-Flag Operation, eine inszenierte Aktion der Regierung, die sie politisch nutzen könnte.
Im Chaos der Ermittlungen ist es logisch, dass Menschen spekulieren. Im Zeitalter des Internets können sie das aber öffentlich tun – und andere können ihre Spekulationen aufgreifen und weiterverbreiten. Das mag je nach Einstellung naiv, taktlos oder unverantwortlich sein, lässt sich aber nicht verhindern. Wer allerdings die Ruhe hätte bewahren müssen, waren die Nachrichtenmedien. Die Berichterstattung war aber alles andere als ruhig und gefasst. So berichtete CNN am Mittwoch von einer angeblichen Festnahme, die nie passiert war. Im Live-Fernsehen und auf Twitter verbreitete der Sender die Falschmeldung, die andere Medien wie Fox News und die Associated Press schnell aufgriffen, bis alle zurückrudern mussten. Das FBI kritisierte die Medien für ihre hektische und falsche Berichterstattung, weil sie unvorhersehbare Folgen für die Ermittlung haben könnte.
„Get it first, but first get it right“ – der Slogan von Randolph Hearsts International News Service definiert verantwortungsvollen, guten Journalismus. Redakteure müssen Zeitdruck und Sorgfalt gegeneinander aufwiegen. Das war sicherlich einfacher vor der Verbreitung des Telegrafen, dann des Radios und dann des Fernsehens. Das Internet aber hat die Verbreitung von Nachrichten nochmal massiv beschleunigt und das Publikum vergrößert. In der idealen Welt wiegt die Verantwortung gegenüber dem Leser oder dem Zuschauer im Zweifelsfall mehr als die Genugtuung, eine Meldung als erster gehabt zu haben.Die Realität zeigt aber die Hektik der Medien, die oft in journalistischen Desastern enden. Schon im vergangenen Jahr hatten CNN und Fox falsch über eine Entscheidung des Supreme Court berichtet, weil sie schon während der Verlesung des Urteils Meldungen geschrieben hatten.
Gerade in „developing stories“ ist die Informationslage unübersichtlich, die Ungeduld der Medien groß. Fehlerhafte Meldungen oder Spekulationen, um die Sendezeit zu füllen, bringen aber niemandem etwas. Wenn sich diese mangelhaften Informationen dann noch in der Nachrichtenflut des Internets verbreiten, wird ein Leser entweder nie die korrigierte Version bekommen – oder Vertrauen in die Nachrichtenmedien verlieren, wenn sie falsche Berichterstattung zugeben müssen.