Google vergisst, aber das Internet nicht
Was sind die „Umstände des Einzelfalls“? Wie viel Zeit muss verstrichen sein? Welche Verarbeitungszwecke sind legitim? Was genau bedeutet veraltet? Wie kann jemand über öffentliches Interesse entscheiden? Google bleibt viel Spielraum beim Bearbeiten von Löschanträgen.
Suchmaschinen müssen bestimmte Ergebnisse auf Antrag löschen, hat der Europäische Gerichtshof im Mai entschieden. Der einzelne User habe ein „Recht auf Vergessen“, heißt es. 40.000 EU-Bürger haben bereits von dem Formular Gebrauch gemacht, das Google dafür zur Verfügung gestellt hat. Doch kann Augenwischerei eine endgültige Lösung für den Datenschutz sein?
Denn beim Antrag auf Löschung gibt es bereits das erste Problem: „Bei der Umsetzung dieser Entscheidung werden wir jeden Antrag einzeln prüfen und zwischen den Datenschutzrechten des Einzelnen und dem Recht der Öffentlichkeit auf Auskunft und Informationsweitergabe abwägen“, schreibt Google. Es liegt also letztlich wieder an (geheimen?) Gremien, die entscheiden – zusätzlich wird der Firma eine immense Zusatzarbeit aufgebürdet. Für den Betroffenen selbst ist das Vorgehen aber auch nicht zufriedenstellend: Sollte Google einen Antrag abweisen, können sich die Betroffenen an die Landesdatenschützer wenden – direkten Einfluss haben die aber auch nicht.
Jeff Jarvis schreibt, die Gerichtsentscheidung führe das eigentliche Wesen des Internets ad absurdum: Google werde für die bloße Verlinkung verantwortlich gemacht, den Verweis auf die Information eines anderen. Als Monopolist hat Google eine gewisse Verantwortung dem einzelnen Nutzer gegenüber, aber die die peinliche oder rufschädigende Information stammt von einem anderen – und auch gegenüber dem hat eine Person Ansprüche und Rechte. Google als Startplattform für Informationssuche in die Schuld zu nehmen, gleicht Symptombekämpfung. Nicht alles, was Google nicht sofort anzeigt, ist Deep Web. Dennoch sieht der Gerichtshof Suchmaschinen als „Datenverarbeiter“ an, nicht als bloße Linksammlungen.
Dazu kommt: Google fordert einen Ausweis oder ein anderes Dokument zur Identifikation des Antragsstellers – durchaus verständlich, bietet der Löschantrag anders doch auch viele Möglichkeiten zum Missbrauch. Wer aber generell um seine Daten besorgt ist und Google misstraut, will bestimmt nicht seinen Personalausweis scannen und hochladen.
Dabei geht es hier auch um eine Fragmentierung des Internets. Denn der Europäische Gerichtshof gilt nur in der Europäischen Union. Internationale Google-Versionen aus anderen Ländern zeigen die in der EU gelöschten Informationen immer noch an. Und auch hier hat der User Zugriff auf die Sites in anderen Sprachen. Schutz vor irreführenden oder böswilligen Informationen gibt es also nur dann, wenn es jemand bei einer oberflächlichen Suche belässt. Weil Google die Ergebnisse auch nur dann löscht, wenn jemand nach dem Namen des Betroffenen sucht, können die beanstandeten Seiten auch immer noch bei einer zufälligen Suche nach etwas anderem auftauchen.
Letztlich muss sich Google selbst beschneiden. Die Suchmaschine wird nicht mehr ihrem Anspruch gerecht, jedem Nutzer das passende Ergebnis zu liefern, wenn einige Ergebnisse ausgeblendet werden müssen. Insofern ist die Entscheidung auch schlecht für das Geschäftsmodell des Unternehmens. Denn auch im echten Leben gibt es kein echtes Recht auf Vergessen: Wer einmal zum Dorfgespött wurde, über den reden die Nachbarn auch noch nach Jahrzehnten am Kaffeetisch.
Klar ist: Die Umsetzung der Gerichtsentscheidung, inklusive ihrer Tücken und Probleme, liegt bei Google; der Gerichtshof hat nicht genau das Formular vorgeschrieben, das Google implementiert hat. Mitbewerber wie Bing oder Yahoo haben noch gar nicht reagiert. Google aber will auf seine Art und Weise gegen die Entscheidung vorgehen: Schon bei Links, die wegen Urheberrechtsbeschwerden gelöscht wurden, zeigt Google einen Hinweis darauf an; das soll auch bei den Löschungen aus Datenschutzgründen so sein. Darüber hinaus soll es in halbjährlichen Transparenzberichten Daten zu den Anträgen geben. Zufrieden kann mit dieser Gerichtsentscheidung also niemand sein.