Quo vadis, Kommentar-Funktion?

Bundespräsident Joachim Gauck glaubt, in manchen Internet-Kommentaren „menschliche Abgründe“ erkennen zu können.

Das hat er sicherlich mit einigen Online-Redakteuren gemein, die die Foren ihrer Webseiten verwalten. Kein Online-Auftritt einer Zeitung kommt mehr ohne Kommentarfunktion aus. Und die wird rege genutzt: Auf der Website der kostenlosen Schweizer Pendlerzeitung „20 Minuten“ beispielsweise verfassten Nutzer allein 2012 1,4 Millionen Kommentare. Die meisten Nutzer schreiben aber nicht nur, sie lesen auch Kommentare, hat eine Umfrage unter ihnen ergeben.

Die wechselseitige Kommunikation ist der wesentliche Faktor, der das Internet vom klassischen Massenmedium trennt. Gerade journalistischen Medien eröffnet sich so eine Reihe von Vorteilen. So kann zum Beispiel die Bindung des Lesers an das Medium wachsen, wenn er sich ernstgenommen fühlt. Aber nicht zuletzt ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass User das Medium auf Fehler im Artikel hinweisen kann – ein Online-Kommentar oder eine E-Mail ist schnell verfasst, aber wer würde es auf sich nehmen, für einen kleinen Fehler einen Leserbrief zu schreiben oder sich durch die Redaktion zu telefonieren? Hier ist das Internet ein Gewinn für User und Medium, besonders angesichts der winzigen Korrekturquote von Zeitungen.

Auf der anderen Seite stellen offene Kommentare auch eine Gefahr dar. So ist das Medium  verantwortlich für Aussagen, auch von Nutzern, die strafrechtlich relevant sind. Deswegen bedeutet die Kommentarfunktion auch einen großen redaktionellen Aufwand. Keine Online-Zeitung schaltet Kommentare automatisch frei, alle prüfen die Beiträge vorher. Und das meist nur zu bestimmten Zeiten – denn welcher Online-Redakteur will schon um zwei Uhr nachts noch arbeiten? Dadurch geht ein Teil der unmittelbaren und wechselseitigen Kommunikation verloren, die das Internet verspricht.

Dazu kommt: Kommentar-Threads drohen schnell in verbale Schlachtfelder auszuarten. Trotz wohlgemeinter „Netiquette“-Vorschriften scheinen nur wenige User Zurückhaltung zu zeigen, wenn es um brisante Themen geht. Das sind vor allem Einwanderung, Ausländer, Islam. Hier schließen die Seiten ihre Kommentare meist schnell oder ermöglichen sie erst gar nicht , weil der Schwall an unerträglichen Äußerungen zu groß wird. Das Freischalten kann aber auch schnell zur eigenen Gratwanderung der Redakteure werden, wenn es um politische Themen geht. Was bringt es hier noch, Nutzer beitragen zu lassen? Denn schnell drehen sich die Attacken um: Das Löschen von beleidigenden Kommentaren wird zur „Zensur“, das Entfernen von themenfremden Beiträgen „Meinungsmonopol“.

Die extreme Lösung ist, Kommentare schlichtweg nicht mehr zu ermöglichen. Das hat Markus Beckedahl von netzpolitik.org öffentlich überlegt. Ihm schien das Moderieren letztlich fruchtlos – auch wenn er vermutet, dass es nur wenige User sind, die den Hauptteil des Spams ausmachen. Auch der ehemalige Chefredakteur der schwedischen Online-Zeitung Newsmill, Leo Lagercrantz, verzweifelte schier angesichts der Masse an Hetze. Aber ein simples Schließen der Kommentare der eigenen Webseite kann das Problem nur verlagern.

Denn Medien haben auch Auftritte in Netzwerken, die sie selbst nicht vollständig kontrollieren können – etwa Facebook und Twitter. Hier entladen sich auch meist die Shitstorms, etwa im Winter 2012 gegen die ARD. Unter einem Facebook-Beitrag über Plüschtiere kommentierten zunächst 800 User und beschwerten sich über die Reform des Rundfunkbeitrags. Die Online-Redaktion der ARD postete daraufhin einen erklärenden Beitrag – unter dem sich bis heute knapp 9.000 Kommentare gesammelt haben. Das bedeutet einen enormen und zusätzlichen Redaktionsaufwand. Shitstorms nutzen die überwältigende Zahl der Teilnehmer, um eine Online-Redaktion zu überfordern. Konstruktive Diskussionen entstehen so aber nur selten. Ignorieren können die Redaktionen die Aufregung aber auch nicht – das würde sie noch negativer dastehen lassen.

Der Shitstorm gegen die ARD bildet sicherlich eine Ausnahmesituation, was Userkommentare angeht. Bei der ARD als öffentlich-rechtlicher Einrichtung sehen sich viele Nutzer involvierter als bei eine Zeitung, die sie nicht lesen, aber auch nicht bezahlen müssen. Die Redaktionen haben aber immer noch keinen Masterplan gefunden, wie sie mit Kommentaren umgehen. Dabei ist das Internet mittlerweile nicht mehr jung – wird aber immer wichtiger. Eine offensichtliche Lösung wäre also, mehr Redakteure einzustellen, die sich ganz um die Community eines Mediums kümmern. Ohne die Möglichkeit der Userbeiträge wäre das Internet nämlich nur ein weiteres indirektes Massenmedium – und die Redaktionen müssten auch auf die vielen Vorteile der wechselseitigen Kommunikation verzichten.

Einen Fehler darf man allerdings nicht machen: Kein Thread von User-Kommentaren kann als repräsentativ für die Bevölkerung gesehen werden. Dieses Argument, das auch gerne von den Usern selbst genannt wird, ist abwegig. Zu viele Faktoren spielen eine Rolle bei der Frage, ob und wie ein User kommentiert. Konzertiere Kommentarfluten, die gezielt einen bestimmten Eindruck hinterlassen wollen, trüben die Vorstellung von „Volkes Stimme“ weiter. Allerdings haben Kommentare einen erheblichen Einfluss auf den Leser: Eine Studie der Universität von Wisconsin fand heraus, dass der Tonfall der Nutzerkommentare die Einstellung des Lesers zum Thema beeinflusst. Aus allen Perspektiven sollten Redaktionen mit ihren Nutzerbeiträgen also vor allem eins tun: sie ernst nehmen.

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